Adolph Kolping ist ein Prophet
Prophet/-innen sind Menschen, die wachrütteln. Sie legen den Finger in die Wunden der Zeit. Sie machen darauf aufmerksam, dass gesellschaftliche und persönliche Themen dringend zu einer Lösung geführt werden müssen für eine gute Zukunft. Propheten kennen sich damit aus, was in den Herzen der Menschen vor sich geht. Sie kennen sich aus und ahnen, was passiert, wenn Menschen aus ihrer Sicherheit herausgeworfen werden, sie beginnen zu ergründen und zu verstehen, weshalb dieses oder jenes passiert, sie kennen sich aus und sehen, welche Abgründe sich dabei auftun können. Die Prophet/-innen in biblischer Zeit holten Gott zurück in die Mitte des Lebens der Menschen. Sie predigten klar und deutlich und riefen zur Umkehr auf. Diese Propheten haben uns heute ebenso viel zu sagen wie damals.
Als einen Nachfolger der biblischen Propheten möchte ich gerne Kolping verstehen. Er sah sehr genau, was in seiner Zeit die Not der Menschen war. Er spürte sehr genau den Umbruch in der Gesellschaft. Er spürte, wie empfindsam die Menschen auf die Veränderungen reagierten und wie sehr sie herausgefordert waren. Er sah, dass Blindheit für die guten Wege und offensives Vorangehen zum Guten nahe beieinander lagen. Kolping rüttelte sie auf. Er tat das mit den Mitteln seiner Zeit. Und er tat es in der absoluten Überzeugung, dass das Christentum Richtschnur für ethisches und gesellschaftliches Handeln sein musste. Diskussionen, Veröffentlichungen, Predigten und tatkräftiges Zupacken waren sein Weg des Aufrütteln. Mit aller Kraft und unumstößlich setzte er sich ein für die Menschenwürde, für Gerechtigkeit und die Erkenntnis der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen.
Was wären heute Kolpings und damit unsere Themen? In unserer Gesellschaft und in der ganzen Welt erleben wir in der Politik gerade unzählige Situationen, in denen die Lösung – oder auch Erlösung aus dem Dilemma nicht schnell in Sicht ist. Wie reagieren, wenn Menschen in anderen Ländern unterdrückt werden und sich nicht frei bewegen können, weil es die Regierenden verhindern. Nordstream 2 stoppen oder nicht? Wie reagieren auf die Situation in Belarus und ihre Oppositionsführer/-innen, die ins Exil mussten oder jetzt angeklagt werden, weil sie ihre Stimme für die Freiheit erheben? Wie einstehen für die Geflüchteten in den Flüchtlingslagern? Darf man denn lange überlegen, wenn es um die Menschen auf Lesbos geht – unabhängig davon, wer den Brand gelegt hat? Es geht um Menschenleben! Und dann wieder neu: Wie mit Corona in Zukunft umgehen? Wie mit den Folgen umgehen? Gerechtigkeit ist Gottes Weg mit uns.
Als Jesu Jüngerinnen und Jünger, als Kolpingmenschen dürfen wir gelassen darauf vertrauen, dass wir unseren prophetischen Auftrag in der Welt von heute, an unserem Ort finden werden durch unsere absolute Offenheit auf Gottes Weg mit uns.
Dr. Claudia Hofrichter, Geistliche Leiterin im DV Rottenburg-Stuttgart